Lucifer

Gion Mathias Cavelty’s jüngster Roman, erschienen 2022 bei lector books

In Cavelty’s jüngstem Roman bleibt Vieles offen. Aber hinter dem Feuerwerk von Anspielungen und witzigen Einfällen leuchtet eine klassische Struktur hervor.

‘Lucifer’ handelt von der Entwicklungsfähigkeit des Menschen, stellt diese in Frage und bejaht sie am Ende doch. Der Mensch kann zum selbständigen Denken, zum tragfähigen Ethos erwachen. In Cavelty’s Roman erweist sich das schliesslich im dezidierten ‘Nein’ des Protagonisten zum Meister der Cyberwelt, der ihn zu einem «Dosenmenschen» machen will. Die Entwicklungsfähigkeit des Protagonisten besteht darin, dass er dem Transhumanismus, der Verwandlung in eine Maschine, eine Abfuhr erteilt – weil er selbständig denken kann und selbstverantwortlich handeln will.

 

Der Weg der mittelalterlichen Ritter

‘Lucifer’ folgt der mittelalterlichen Struktur der Queste, der spirituellen Suche, und stellt sich damit in die Tradition der Minnesängerromane, des Roman de la Rose und der Artus-Sage: der Heldenreisen und Aventiurefahrten des Rittertums. Dabei führt Cavelty den Leser hinein in eine epochenübergreifende Männerwelt, die zur Erholung vom Gendern einlädt.

Protagonist ist – ganz nach mittelalterlichem Vorbild – ein stumpfsinniger Junge, ein Findelkind, das in einen Lappen gewickelt aus einem Churer Brunnen gefischt wird und auf den Namen Nogg (churerisch für Narr) getauft wird. Ausgangspunkt seiner Queste bildet die Hölle, konkretisiert als Calanda-Brauerei in Chur. Täglich wird er von den Arbeitskollegen gefoltert, bis er eines Tages einen goldenen Ritter das Hansruedi-Giger-Gässlein herunterpreschen sieht. «Welch ein Licht!» Der Bischof von Chur erklärt ihm, dass es sich wohl um einen Tempelritter gehandelt habe, und von da an ist Nogg von den Templern geradezu besessen. Bald ergibt sich Gelegenheit, mit einem «Freibrauer» (Wanderhandwerker) nach Jerusalem aufzubrechen.

 

Über Jerusalem in die Cyberwelt

Nogg wird Lichtträger (lat. Lucifer). Er lernt unterwegs lesen, sodass er von der Reise nichts mitbekommt. Am Ziel findet er die Templer und wird in ihren Orden aufgenommen. Sie geben ihm den neuen Namen Saint-Martin. Viel später bricht er wieder auf, reist über eine paradiesische Destination, wiederholt durch mancherlei Abenteuer aufgehalten, nach Amerika und begegnet dort, in der Mojave-Wüste, erneut dem goldenen Ritter, den er aus Chur kennt. Dieser entpuppt sich als Herrscher der Cyberwelt, befiehlt Saint Martin niederzuknien, doch dieser weigert sich.

Der zentrale Erzählstrang wird durch vielfältige Weisheiten und Blödeleien ausgeschmückt, wobei erstere dem Leser einiges an Bildung abfordern, während letztere leicht als Verspottung einzelner Gruppen – etwa der Churer, der Freimaurer, der Templer, der Esoteriker, der Gebildeten – missverstanden werden könnte. Denn vorab handelt es sich da um Selbstironie des Autors, der ja selbst Churer, Freimaurer und insbesondere ein höchst gebildeter Mensch ist.

 

Rituale als Reisen

Die Rituale der Templer, die im Roman ‘Lucifer’ denjenigen der Freimaurer ähneln wie ein Ei dem andern, sind symbolische Abbildungen der Queste, der Reise als Erkenntnisprozess. Wo sie ernst genommen werden, vermögen sie den Menschen zu läutern wie die echte Aventiurefahrt. Doch das gelingt nicht immer. Das Ritual ist keine Maschine. Es kann den inneren Aufbruch anstossen. Zwingend ist das nicht. Ausschlaggebend ist der Entschluss des Einzelnen, sich aufzumachen und selbstverantwortlich handeln zu lernen. Das macht Cavelty auf verschiedenen Ebenen deutlich – ein letztes Mal mit Saint-Martins «Nein» zum Cyber-Ritter. Deshalb ist ‘Lucifer’ ein Entwicklungsroman mit happy end, ein amüsanter Ritterroman im Sprech unserer Zeit und das Werk eines Freimaurers, der es – allen Scherzen zum Trotz – ernst meint. Nur eben nicht gleich bierernst.

 

Jürg von Ins

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