Geschichte der Erkenntnis

Von den erotischen Anfängen bis zur Gegenwart

Nachdem ich in ‚Verstummte Seelen‘ (Münster Verlag, Basel 2020) die Verengung des Erlebens im neuzeitlichen Europa nachgezeichnet hatte, drängte sich die Frage nach Veränderungen der Erkenntnismöglichkeiten auf. Deshalb schrieb ich zusammen mit Anina Föhn diesen zweiten Band. Das Magazin ‚Schweizer Buchhandel‘ (6/2024) würdigt ‚Geschichte der Erkenntnis‘ als „interdisziplinäres Sachbuch mit fundierten Beiträgen zum Verständnis der Vielfältigkeit der europäischen Geistesgeschichte.“

 

Wo immer sich durch die Geschichte Vielfalt zeigte, wurde sie abgewehrt: So bekämpften die radikalen Monotheisten nach alttestamentlichem Zeugnis die Vielfalt der Götter, die mittelalterlichen Scholastiker die vielgestaltige Welt der Magier und Heilerinnen, die Reformatoren alles Bildhaft-Visionäre und schliesslich die Aufklärer alle nicht streng rationalen Erkenntnisweisen. Als Inbegriff der Vernünftigkeit bildete sich die männliche, erwachsene, weisse Autorität heraus, die beanspruchte, alles besser zu wissen und klarer zu erkennen als Frauen, Kinder, Jugendliche, Alte und die Menschen aller anderen Kulturen. Nachdem aber diese selbsternannten Halbgötter die Welt kolonisiert und den Weltkrieg heraufbeschworen hatten, konnten Proteste nicht ausbleiben. Mit dem Surrealismus blühte das Phantastische auf und machte nach der Jahrtausendwende der Zensurkultur der Gegenwart Platz.

Jürg von Ins, Anina Föhn

Geschichte der Erkenntnis – Von den erotischen Anfängen bis zur Gegenwart

Edition Königstuhl

400 Seiten, gebunden, mit farbigen Abbildungen

ISBN 978-3-907339-67-1

Erhältlich beispielsweise bei Orell Füssli

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«Blut klebt an den Benin-Bronzen»

Copyright Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, Fotografin Claudia Ombrocki
Copyright Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, Fotografin Claudia Ombrocki

Brigitta Hauser-Schäublin macht sich in ihrem Artikel "Benin Bronzen: Schweizer Museen hofieren die Nachfahren der Sklavenhändler und ignorieren das Blut, das an den Kunstschätzen klebt" (NZZ vom 12.5.2023) zur Anwältin der britischen Kolonialmacht und verdreht die Geschichte des Königreichs Benin wie des Staates Nigeria in einer Weise, die der Berichtigung bedarf. Die Bronzen sollen insgesamt religiöse Funktion gehabt haben und daher mit dem Blut von Tier- und Menschenopfern besprenkelt worden sein.

Schon 1670 hatte der niederländische Geograf Olfert Dappert die Grösse und Schönheit von Benin City gerühmt. Dabei gibt er einen ersten Hinweis auf die Bedeutung der Bronzeplatten:

 

«(Benin) ist wohl so gross wie die Stadt Harlem…Es ist in viele prächtige Wohnungen eingeteilt und hat schöne, lange, viereckige Lustgänge, die ungefähr so gross sind als die Börse zu Amsterdam, doch einer ist grösser als der andere. Das Dach derselben steht auf hölzernen Säulen, welche von unten bis nach oben zu mit Messingplatten überzogen waren, worauf ihre Kriegstaten und Feldschlachten abgebildet sind.»[1]

 

1897 marschierten britische Truppen unter dem fadenscheinigen Vorwand einer Strafexpedition in Benin City ein, massakrierten die Bevölkerung und machten die Stadt dem Erdboden gleich. Die Beute bestand aus einer Vielzahl von Elfenbeinschnitzereien und Bronzen. Um die Greueltat zu rechtfertigen verfasste Sir Reginald Bacon, ein Geheimdienstoffizier, der am Gemetzel teilnahm, die Schrift «Benin, the City of Blood», die der Autorin des NZZ-Beitrags als Quelle gedient haben dürfte. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Lehrstück kolonialistischer Propaganda. Bacon schildert die Grausamkeit der Bini in drastischen Farben, stellt den Wert der Kriegsbeute heraus und suggeriert zugleich, dass die Kunstwerke nicht von den Bini, sondern von Ägyptern oder Chinesen gefertigt worden seien – also in Benin durchaus am falschen Ort waren. Bacon zeichnet ein schauriges Bild:

«Der Weg nach Benin wird von verstümmelten Leichen gesäumt. Gekreuzigte röcheln von Holzgestellen herab. Die Wiesen sind blutige Sümpfe. «Überall war Blut auf der Bronze.»[2]

 

Schliesslich ist auch Hauser-Schäublins Statement zu hinterfragen, dass heute der nigerianische Staat und nicht der König von Benin rechtmässiger Besitzer und Verhandlungspartner sei. Wie die Autorin richtig sieht, wird Nigeria seit der Unabhängigkeit von Terror und Bürgerkriegen erschüttert. Dabei verschweigt sie, dass dies an der Absurdität dieses von den Briten geschaffenen Staatsgebildes liegt. Die Herrscher des Kalifats von Sokoto im Norden, die Königreiche der Bini und der Yoruba im Süden und die vielen weiteren Territorien dachten nie daran, sich zu einem Staat zu verbinden. Überhaupt war ihnen die Idee eines Staates europäischen Zuschnitts fremd. Die Frage ist also weniger, ob der derzeitige König von Benin rechtmässiger Besitzer der Kunstwerke ist. Die Frage ist eher, ob sein Palast wieder aufgebaut werden sollte, dass die Bronzen an ihren angestammten Platz (statt europäisch gestylte Museen) zurückfinden können.



[1] Verstummte Seelen, Von Ins 2020:177

[2] Ebd. S. 185

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Lucifer

Gion Mathias Cavelty’s jüngster Roman, erschienen 2022 bei lector books

In Cavelty’s jüngstem Roman bleibt Vieles offen. Aber hinter dem Feuerwerk von Anspielungen und witzigen Einfällen leuchtet eine klassische Struktur hervor.

‘Lucifer’ handelt von der Entwicklungsfähigkeit des Menschen, stellt diese in Frage und bejaht sie am Ende doch. Der Mensch kann zum selbständigen Denken, zum tragfähigen Ethos erwachen. In Cavelty’s Roman erweist sich das schliesslich im dezidierten ‘Nein’ des Protagonisten zum Meister der Cyberwelt, der ihn zu einem «Dosenmenschen» machen will. Die Entwicklungsfähigkeit des Protagonisten besteht darin, dass er dem Transhumanismus, der Verwandlung in eine Maschine, eine Abfuhr erteilt – weil er selbständig denken kann und selbstverantwortlich handeln will.

 

Der Weg der mittelalterlichen Ritter

‘Lucifer’ folgt der mittelalterlichen Struktur der Queste, der spirituellen Suche, und stellt sich damit in die Tradition der Minnesängerromane, des Roman de la Rose und der Artus-Sage: der Heldenreisen und Aventiurefahrten des Rittertums. Dabei führt Cavelty den Leser hinein in eine epochenübergreifende Männerwelt, die zur Erholung vom Gendern einlädt.

Protagonist ist – ganz nach mittelalterlichem Vorbild – ein stumpfsinniger Junge, ein Findelkind, das in einen Lappen gewickelt aus einem Churer Brunnen gefischt wird und auf den Namen Nogg (churerisch für Narr) getauft wird. Ausgangspunkt seiner Queste bildet die Hölle, konkretisiert als Calanda-Brauerei in Chur. Täglich wird er von den Arbeitskollegen gefoltert, bis er eines Tages einen goldenen Ritter das Hansruedi-Giger-Gässlein herunterpreschen sieht. «Welch ein Licht!» Der Bischof von Chur erklärt ihm, dass es sich wohl um einen Tempelritter gehandelt habe, und von da an ist Nogg von den Templern geradezu besessen. Bald ergibt sich Gelegenheit, mit einem «Freibrauer» (Wanderhandwerker) nach Jerusalem aufzubrechen.

 

Über Jerusalem in die Cyberwelt

Nogg wird Lichtträger (lat. Lucifer). Er lernt unterwegs lesen, sodass er von der Reise nichts mitbekommt. Am Ziel findet er die Templer und wird in ihren Orden aufgenommen. Sie geben ihm den neuen Namen Saint-Martin. Viel später bricht er wieder auf, reist über eine paradiesische Destination, wiederholt durch mancherlei Abenteuer aufgehalten, nach Amerika und begegnet dort, in der Mojave-Wüste, erneut dem goldenen Ritter, den er aus Chur kennt. Dieser entpuppt sich als Herrscher der Cyberwelt, befiehlt Saint Martin niederzuknien, doch dieser weigert sich.

Der zentrale Erzählstrang wird durch vielfältige Weisheiten und Blödeleien ausgeschmückt, wobei erstere dem Leser einiges an Bildung abfordern, während letztere leicht als Verspottung einzelner Gruppen – etwa der Churer, der Freimaurer, der Templer, der Esoteriker, der Gebildeten – missverstanden werden könnte. Denn vorab handelt es sich da um Selbstironie des Autors, der ja selbst Churer, Freimaurer und insbesondere ein höchst gebildeter Mensch ist.

 

Rituale als Reisen

Die Rituale der Templer, die im Roman ‘Lucifer’ denjenigen der Freimaurer ähneln wie ein Ei dem andern, sind symbolische Abbildungen der Queste, der Reise als Erkenntnisprozess. Wo sie ernst genommen werden, vermögen sie den Menschen zu läutern wie die echte Aventiurefahrt. Doch das gelingt nicht immer. Das Ritual ist keine Maschine. Es kann den inneren Aufbruch anstossen. Zwingend ist das nicht. Ausschlaggebend ist der Entschluss des Einzelnen, sich aufzumachen und selbstverantwortlich handeln zu lernen. Das macht Cavelty auf verschiedenen Ebenen deutlich – ein letztes Mal mit Saint-Martins «Nein» zum Cyber-Ritter. Deshalb ist ‘Lucifer’ ein Entwicklungsroman mit happy end, ein amüsanter Ritterroman im Sprech unserer Zeit und das Werk eines Freimaurers, der es – allen Scherzen zum Trotz – ernst meint. Nur eben nicht gleich bierernst.

 

Jürg von Ins

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Freimaurerei zwischen Marginalisierung und Exklusivität

Die Freimaurer bekannten sich seit jeher zur Loyalität gegenüber den Herrschenden. Wie konnten sie trotzdem Verschwörungsängste wecken? Liegt es daran, dass sie den Anspruch erheben, die einzig richtige Art der Erkenntnis zu pflegen? Und was wäre gegen die Weltherrschaft der aufgeklärten
Vernunft einzuwenden?
Lesen Sie den soeben erschienen Beitrag von Anina Föhn und Jürg von Ins auf religion.ch.

Anina Föhn ist Philosophin und Latinistin. Seit ihrem Abschluss an der Universität Zürich arbeitet sie als freischaffende Autorin. Jürg von Ins ist Religionswissenschafter. Er lehrte in Zürich, Bern und an der FU Berlin, Publikationen.

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7. Schweizerischer Lateintag

Dominus providebit (Gott wird vorsorgen). Prägung auf dem Rand des Fünflibers.  Vgl. Psalm 55,23 und 1. Petrusbrief 5,7 (Foto: Jürg Stünzi)
Dominus providebit (Gott wird vorsorgen). Prägung auf dem Rand des Fünflibers. Vgl. Psalm 55,23 und 1. Petrusbrief 5,7 (Foto: Jürg Stünzi)

Am Samstag, 30. Oktober 2021, findet im Kloster Wettingen der 7. Schweizerische Lateintag statt. 24 Workshops von hochkarätigen Fachleuten öffnen den Teilnehmenden die Augen: Was einst Weltsprache, dann lingua franca der Bildungsschicht war und heute zur Geheimsprache der Mediziner verkommen ist, lebt in unserem Sprachempfinden, unseren Kulturräumen und unserer Rechtsordnung fort. Davon sind alle betroffen: die ÖV-Benutzerinnen und -benutzer fahren gemeinsam im 'Omnibus', was wörlich 'für alle' heisst, während auf Autos neben das Kennzeichen 'CH' geklebt wird, was für 'Confoederatio Helvetica' steht. Zugleich erinnert Latein an die altrömische Welt mit ihren Spielfreuden, Obszönitäten und Grausamkeiten. Dies alles lässt der Lateintag aufleben, ohne Lateinkenntnisse vorauszusetzen.

 

 

 

 

www.lateintag.ch

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Ausstellung und Installationen in Thalwil

Die diesjährigen Kulturtage Thalwil stehen unter dem Motto 'vis-à-vis'. In diesem Rahmen zeigen Jürg Stünzi und Jürg von Ins im Ortsmuseum Thalwil eigene Werke und Installationen sowie Skulpturen und Bilder schweizerischer und afrikanischer KünstlerInnen. Das Thema 'vis-à-vis' wird interpretiert als Hürdenlauf zum Dialog, als Auseinandersetzung mit dem Eigenen, dem Anderen und der gegenseitigen Resonanz und Spiegelung. Nehmen Sie Platz in Mani Matters Coiffeursalon, stellen Sie sich einem Staring Contest und lassen Sie sich von den ausgestellten Werken faszinieren und inspirieren.

 

Eröffnung: 27. August 2021, 19 h

Öffnungszeiten: 28.8.-10.9.2021, 17-19 h

Ort: Ortsmuseum Thalwil, Alte Landstrasse 100, 8800 Thalwil

Eintritt frei

 

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Verstummte Seelen: Kritik der organisierten Religionen

In religiösen Erlebnissen begegnet die Seele dem Heiligen, wodurch traditionelle Strukturen aufgebrochen werden. Das ist für organisierte Religionen riskant. Wenn Gott jeder einzelnen Seele erscheint, werden Dogmen und Hierarchien durch immer neue Offenbarungen in Frage gestellt. Deshalb verhindern Kirchen, Moscheen und Synagogen religiöse Erlebnisse, obwohl sie dadurch die Seele zum Schweigen bringen. Denn eigentlich ist es der Sinn der Religion, die Seele aufblühen, wachsen und zu Wort kommen zu lassen. Die organisierten Religionen haben sich stattdessen dem Willen zur Macht verschrieben.

 

Jürg von Ins, Verstummte Seelen. Kritik der organisierten Religionen

 

Erhältlich beim Münsterverlag

und im (online-)Buchhandel, auch als e-Book mit kostenloser Leseprobe

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